Majas Story
Ab Kilometer dreissig laufe ich alleine an der Spitze. Hinter mir die Verfolgergruppe mit den Favoritinnen aus Afrika. Ich leide, laufe aber meinen Rhythmus weiter. Die Afrikanerinnen verkürzen den Abstand zu mir kontinuierlich, holen mich aber nicht mehr rein. Als erste Läuferin überquere ich die Ziellinie des Wien-Marathons 2015. Es ist mein erster Sieg an einem internationalen Marathon und einer der emotionalsten Momente meiner Karriere. Noch Tage später werde ich von den Glücksgefühlen getragen. Gefühle, die einen für all die jahrelange, harte Arbeit belohnen.
2019, vier Jahre später: dieselbe Stadt, derselbe Marathon, aber ein komplett anderes Gefühl. Weit weg sind die Freude, die Zuversicht und die Glücksgefühle von 2015. Mich plagen Versagensängste. Ich habe Angst, wieder aufgeben zu müssen. Bereits die letzten beiden Marathons habe ich aufgrund von Verletzungen abgebrochen und befinde mich seither in einer Negativspirale. In Wien will ich diese endlich durchbrechen. Es gelingt mir nicht. Nach 15 Kilometern spüre ich, dass ich zu verkrampft bin. Nach 20 Kilometern gebe ich auf. Erneut. Ich scheitere an meiner eigenen Erwartungshaltung und stecke in einer Krise.
Dass ich auf Frauen stehe, weiss ich schon lange. Mit zwanzig merke ich, dass mich Frauen stärker anziehen als Männer. Es fällt mir aber schwer, zu sagen, wann und warum ich diese Erkenntnis hatte. Ein Schlüsselerlebnis gab es nie. Das Gefühl, lesbisch zu sein, kam schleichend. Und so habe ich mich auch langsam in diese Welt hineinbegeben und gelebt, was ich fühlte. Nie hatte ich das Bedürfnis, ein grosses Ding daraus zu machen, darum habe ich mich im Sport auch nie aktiv geoutet. Versteckt habe ich meine Liebe aber auch nie, weder privat noch in der Leichtathletik. Ich denke, diese Art entspricht meinem Wesen. Ich bin keine Schwätzerin und habe auch nicht immer Lust, alles zu bereden und mitzuteilen.
Kürzlich lief ich den Marathon in Berlin. Nachdem ich die letzten drei abgebrochen hatte, hatte ich in Berlin ein einziges Ziel: Ich wollte ins Ziel laufen. Nach dreissig Kilometern waren die Zweifel aber plötzlich wieder da. Ich hätte am liebsten geheult. So nahm ich mir während des Laufens eine kurze Auszeit am Streckenrand. Ich habe mir dann vorgestellt, dass es mein letzter Marathon wäre und ich den Lauf darum geniessen möchte. Mit diesen Gedanken habe ich es ins Ziel geschafft. Die Zeit: 2:46. Zwei Minuten langsamer als bei meinem allerersten Marathon vor 13 Jahren. Doch damals wie heute war die Zeit zweitrangig. Es ging ums Gefühl. Noch ist offen, wie es sportlich weitergeht. Etwas weiss ich: Laufen gehört zu mir und wird mich mein ganzes Leben lang begleiten.
Ein Auszug aus dem Buch «Vorbild und Vorurteil – Lesbische Spitzensportlerinnen erzählen». Maja Neuenschwander ist EuroGames-Botschafterin und ehemalige Schweizer Marathon Rekordhalterin.
Foto oben: Lilian Salathé